Mix it, baby!
Einige didaktische Erwägungen zur virtuellen Realität

Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) lassen sich begrifflich relativ einfach unterscheiden: AR stellt eine Erweiterung der Realität dar, während bei VR die reale Umgebung gegen eine virtuelle Umgebung ausgetauscht wird. Der Unterschied ist auch ersichtlich: Technisch operiert VR typischerweise mit einem Head-Mounted Display (HMD), einer blickdichten Brille. Trotz dieser Unterschiede, so die These unserer Workshops, sind VR und AR didaktisch nicht zu trennen.

Das Bild des Kaleidoskops hat für uns didaktisch alles vereint: Ein Kaleidoskop zeigt ein buntes Allerlei, einen Mix aus unterschiedlichen Bruchstücken. Ein Kaleidoskop ist mit seinen Spiegelwänden ferner eine optische Apparatur. Sein illusorischer Zauber entsteht, wie VR auch, durch visuelle Immersion. Und nicht zuletzt die Komponente der Aktivität: Durch Drehen des Kaleidoskops fügen sich die inneren Bestandteile neu zusammen.

Abb. 1: Kaleidoscope of Immersive Learning von Maximilian Stoller/Learning Beyond Reality

Dieser Text entfaltet das Kaleidoscope of Immersive Learning. Angefangen bei der Frage „Was ist VR?“ wird untersucht, inwiefern gerade AR und VR eine (pädagogische) Mixtur anbieten und fordern könnten.

Was ist Virtual Reality? Wo ist VR situiert?
Als der Informatiker Paul Milgram 1994 sein Reality-Virtuality Continuum einführte, stellte er die Unterscheidung zwischen Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) als graduelle Unterscheidung vor. Demnach sind AR und VR eingespannt zwischen den Polen ‚Realität‘ und ‚Virtualität‘ und gehören zur selben Familie. Milgram nannte seine Zwischenzone „Mixed Reality“. VR ist dabei zwischen Augmented Virtuality und Virtual Environment anzusiedeln.

Abb. 2: Milgram (1994) angepasst von Jonathan Scheinmann

VR erfordert an technischer Ausrüstung einerseits Hardware und andererseits Software – also eine Vorrichtung (ggf. samt Controllern), deren Rechenkraft Visualisierung und Interaktion ermöglicht, und eine App (vgl. Söbke et al. 2017: 21). Eine solche Hardware-Vorrichtung ist die VR-Brille. Sie zeigt zwei jeweils leicht verschiedene Bilder derselben Szene, sodass diese dreidimensional wahrgenommen werden kann. Die VR-Brille registriert auch Kopfbewegungen, wodurch sich beim Umsehen auch die visualisierte Welt mitbewegt. Mithilfe von Controllern sind weitere Interaktionen möglich, z.B. lassen sich bestimmte Dinge näher betrachten.

Über die Geschichte der virtuellen Realität lässt sich sagen: Der Wunsch, Abstand von der Wirklichkeit zu nehmen, hat unzählige Ausprägungen gefunden und ist kaum datierbar. Die explizite Kombination einer Sehvorrichtung gekoppelt an Aktivität und taktile Zusätze zwecks Immersion, hier mit Ventilator und Kinematograph, findet sich in einem Radfahrer-Journal von 1897.

Abb. 3: Improved indoor cycling, in: Wheel and Cycling Trade Review, 15. Januar 1897, S. 64.

Seit den Anfängen des Web 2.0 ist von einem Medientyp die Rede, dessen grundlegendste Eigenschaft darin besteht, ein Mix zu sein: die Mashup-Medien. Mit den Mashup-Medien sind Aktivitäten der Aneignung und Zusammenstellung in den Fokus gerückt. Formal heterogene Elemente wie etwa ein Link, dazu ein Video und z.B. einzelne digitale Fotografien können grundsätzlich auch in Echtzeit verbunden und rezipiert werden. Auch Kombinationen von AR-und VR-Anwendungen mit unterschiedlichen Ausgabegeräten werden als Mashup-Medien begriffen (vgl. Schweiger et al. 2022: 12). Mashup-Medien sind in unserem Kaleidoskop die Basis, auf der eine Neuformierung und Erweiterung der Lernumgebungen stattfinden kann. Kernpunkt der Mashup-Medien ist dabei die Erkenntnis und Anerkennung, dass durch das Mischen von Medien und durch das Zusammenführen von Vorgefundenem potenziell neue Inhalte entstehen.

Warum wollen wir VR in der Bildung einsetzen?
Lernen findet als Aktivität statt. In diesen Zustand lassen sich Lernende allerdings nicht immer so leicht versetzen. Wie Schweiger et al. in ihrer Studie über die Lernerfolge durch AR und VR vermerken, stoßen entsprechende Anwendungen im Unterricht auf hohe Motivation unter den Lernenden, von denen manche sogar berichten, Spaß zu haben (vgl. Schweiger et al. 2022: 16).

Ihrer durchdringenden Medialität gemäß unterstützen VR- und AR-Anwendungen die affektive Involvierung der Lernenden und ermöglichen nachhaltige und eindrückliche Lernerfahrungen. Als digitale Ressourcen verkörpern sie die Idee eines individuellen und selbstbestimmten Lernens. Dies beinhaltet, den Lernenden die Freiheit zu geben, eigenen Interessen zu folgen, mit dem virtuellen Setting zu interagieren, ihr Lerntempo selbst zu bestimmen und nach Möglichkeit orts- und zeitunabhängig zu lernen. Aus Perspektive der Lehrkraft findet selbstbestimmtes Lernen als Prozess der Ermächtigung statt – sie muss beibringen, wie man lernt.

VR-Anwendungen im Speziellen sichern eine hohe Konzentration auf den Lerngegenstand, indem sie die Lernenden von potenziellen Ablenkungen isolieren. Als Simulatoren sorgen VR-Anwendungen für die Minimierung von Risiken – etwa bei virtuellen chirurgischen Trainings oder in der Maschinenbedienung (vgl. Hassemer 2022: o.S.). Aktivierung findet auch dahingehend statt, dass VR-Kontexte zum Prinzip haben, Lernende zum Teil des Geschehens zu machen.

Aber nicht nur die Lernenden und das Lernen profitieren unmittelbar von der Technologie, sondern auch die Lehrkräfte. AR- und VR-Anwendungen können Teile ihrer Arbeit übernehmen. Etwa im instruktionsbasierten Bereich können AR- und VR-Anwendungen als Assistenzsysteme die unterweisende Anleitung übernehmen. Auch beim Korrigieren können AR- und VR-Anwendungen mitwirken. Zeitnahe Rückmeldungen sind z.B. bei motorischen Trainings essenziell und können von Lehrkräften oft nur punktuell vorgenommen werden (nur ein Fehler einer Person, wenn sie ihn gerade sehen). Digitale Systeme können hingegen lückenlos und flächendeckend korrigieren, nämlich durch automatisiertes Feedback.

Damit sind schon zwei grundlegende Merkmale aus der Kultur der Digitalität angesprochen: das Mashup-Format als Merkmal der Referenzialität und die Automatisierung als Merkmal der Algorithmizität (vgl. Stalder 2016: 13). Das noch nicht angesprochene dritte Merkmal, Gemeinschaftlichkeit, liegt z.B. in der Möglichkeit, die einzelnen Lernprodukte zu verknüpfen und Einzelarbeiten zu einem größeren Ganzen zusammenzuführen.

Wie lassen sich AR und VR didaktisch begründen?
Inwiefern digitale Ressourcen ein Gewinn für die methodisch-didaktische Ausgestaltung des Unterrichts werden können, hat Ruben Puentedura mit seinem SAMR-Modell aufgeschlüsselt. Puenteduras Modell, das auch in dem Kaleidoskop zum Einsatz kommt, reicht vom Ersatz traditioneller Lehrmittel durch Medien ‚auf Höhe der Zeit‘ (Substitution) bis zur Erneuerung der Aufgabenformate (Redefinition). Das Besondere: Die Veränderung kommt hier ‚von unten‘. Hier geht es nicht mehr darum, neue Methoden festzusetzen und anschließend die passenden Lehrmittel zu produzieren, sondern umgekehrt: Neue Lehrmittel ziehen neue Lehrmethoden nach sich. Entsprechend trifft sich die Implementierung von AR- und VR-Anwendungen in der Lehre auch mit der Zielsetzung der Medienbildung; denn auch hier geht es um anwenden, verstehen, analysieren und gestalten. Dieter Baacke hat das Desiderat 1996 bekanntlich mit den Begriffen Mediennutzung, Medienkunde, Medienkritik und Mediengestaltung benannt (vgl. Baacke 1996).

Inwieweit benötigen verschiedene Wissensformen nun auch verschiedene didaktische Zugänge? Wie kann z.B. prozedurales, deklaratives und strategisches Wissen seinem jeweiligen Charakter entsprechend vermittelt werden? Prozedurales Wissen bezieht sich auf Methoden und Techniken, während deklaratives Wissen sich auf die Kenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge und ‚harter Fakten‘ bezieht. Strategisches Wissen wiederum ist die Fähigkeit, abzuwägen, Konsequenzen vorwegzusehen und strategisch zu denken.

Didaktisch bieten sich AR- und VR-Anwendungen für Lernformate wie Vortrag, Vormachen – Nachmachen, aufgabenbezogenes Lernen, explorativen Unterricht, offenen Unterricht, Lernen durch Lehren, Freiarbeit, Projektarbeit, Stationenlernen, Gamification und Reflektion an (vgl. Schweiger et al. 2021: 22). Speziell VR-Anwendungen gestatten auch Lernen durch Fehler und fördern mit instruktionsbasierten Anwendungen Erfahrungswissen.

Was den Lerngegenstand betrifft, haben AR und VR gerade dort ein Alleinstellungsmerkmal, wo die Realität unzugänglich wird. Das können vergangene Zeiten, entlegene Orte, mikroskopische Bereiche oder auch Körper- oder Erdinneres sein.

Fazit
Die Technologie ist so weit, das lassen die vielfältigen Einsatzszenarien von AR und VR in der Gaming-Industrie, im virtuellen Tourismus, in der angewandten Forschung, in der Unterhaltungsindustrie, im 3D-Designbereich oder auch in der Medienkunst wissen. Die pädagogischen Potenziale der AR- und VR-Anwendungen müssen, gemessen an der Vielfalt des Vorkommens, unterdessen noch weiter entdeckt werden. Im Zuge unserer Workshops haben wir nicht nur die Erfahrung gemacht, dass manche Apps sich als pädagogisch untauglich erweisen, sondern sind im Gegenteil hier und da auf beträchtliches edukatives Potenzial gestoßen, das die Produktbeschreibungen nie erwarten lassen hätten.

Dass AR- und VR-Anwendungen, die in der Tat oftmals von internationalen Tech-Giganten bereitgestellt werden, in Sachen Datenschutz kritisch zu betrachten sind, ist ein berechtigter Einwand. Dass auf affektiver Ebene und unter immersiven Bedingungen Beeinflussung (z.B. durch virtuelle Werbeflächen) leichter entstehen kann – diese und ähnliche Befürchtungen sind sicherlich berechtigt. Die Frage ist nur, wie, wann und wo eine kenntnisreiche kritische Auseinandersetzung mit den Medien und, in ihrer Konsequenz, eine entsprechende mediale Transformation stattfinden kann. Die Antwort: Bestimmt nicht, indem diese Technologien ignoriert werden. Dafür sind ihre Bildungspotenziale zu wertvoll. Und nicht zuletzt: Wenn die Schule sich für den Alltag öffnet und Lernen selbstbestimmt, zeit- und ortsunabhängig stattfinden soll – dann muss es auch Spaß machen dürfen.

Quellen

Ronald T. Azuma: A Survey of Augmented Reality, in: Presence. Teleoperators and Virtual Environments, Jg. 6, Nr. 4, 1997, S. 355–385

Dieter Baacke: Medienkompetenz–Begrifflichkeit und sozialer Wandel, in: Antje von Rein (Hrsg.): Medienkompetenz als Schlüsselbegriff, Bad Heilbrunn 1996, S. 112–124

Joe Buchner: Das Nichtsichtbare sichtbar machen: Lernen mit Augmented Reality – Webinar, 18.10.2019; https://www.youtube.com/watch?v=N6eLdB1cQm0

ColdFusion: What are Virtual and Augmented Realities?, YouTube-Video, 01.04.2017; https://www.youtube.com/watch?v=f9MwaH6oGEY

COPLAR-Leitfaden: Didaktische Konzepte identifizieren – Community of Practice zum Lernen mit AR und VR, 2021; https://www.social-augmented-learning.de/wp-content/downloads/210225-Coplar-Leitfaden_final.pdf

Simon Maria Hassemer: VR in der Schule; https://3d-erleben.kultus-bw.de/,Lde/Startseite/XR/VR+in+der+Schule

Johannes Klingebiel: Okay, reden wir über das Metaverse, in: Zine – Newsletter über Marketingvisionen, Tech, Design, Klima & Merkwürdiges, Nr. 140, 27.07.2021; https://www.getrevue.co/profile/klingebeil/issues/okay-reden-wir-uber-das-metaverse-690415?utm_campaign=Issue&utm_content=view_in_browser&utm_medium=email&utm_source=Johannes+Klingebiel

Paul Milgram et al.: Augmented Reality: A Class of Displays on the Reality-Virtuality Continuum, in: SPIE, Nr. 2351, Telemanipulator and Telepresence Technologies, 1994, S. 282–292

Ruben Puentedura: SAMR and TPCK: Intro to Advanced Practice, 2010; http://hippasus.com/resources/sweden2010/SAMR_TPCK_IntroToAdvancedPractice.pdf

Juliana Schlicht: Wie können Lernerfolge sichtbar gemacht werden und was sind sie wert?, in: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, Jg. 43, Nr. 3, 2014, S. 48–50; https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0035-bwp-14348-0

Moritz Schweiger et al.: Lernerfolg in der Schule durch Augmented und
Virtual Reality? Eine quantitative Synopse von Wirkungsstudien zum Einsatz virtueller
Realitäten in Grund- und weiterführenden Schulen, in: MedienPädagogik – Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, Nr. 47, 2022, S. 1–25; https://doi.org/10.21240/mpaed/47/2022.04.01.X

Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Berlin 2016.

Heinrich Söbke et al.: Von der AR-App zur Lernerfahrung: Entwurf eines formalen Rahmens zum Einsatz von Augmented Reality als Lehrwerkzeug, Proceedings der Pre-Conference-Workshops der 15. E-Learning Fachtagung Informatik DelFI, Chemnitz 2017, S. 15–27; https://www.researchgate.net/publication/319718277_Von_der_AR-App_zur_Lernerfahrung_Entwurf_eines_formalen_Rahmens_zum_Einsatz_von_Augmented_Reality_als_Lehrwerkzeug

Alle aufgeführten Links wurden zuletzt am 13.05.2022 auf Aktualität geprüft.
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